Das Wichtigste in einer Geschichte sind die Figuren. Das Setting ist wichtig, der Spannungsbogen auch. Aber es sind die Charaktere, bei denen wir mitfiebern, in deren Köpfen wir uns gern aufhalten wollen, in ihren Herzen sowieso. Wir wollen mit Romanfiguren denken, fühlen und leiden, deswegen lesen Menschen überhaupt Bücher. Der Ort der Handlung kann noch so faszinierend sein, und selbst bei einem Krimi sind wir notfalls bereit, einen nicht ganz so überzeugenden Plot zu verzeihen, wenn uns die Hauptfiguren so völlig mitnehmen, dass wir sie am liebsten als Nachbarn oder Freundin hätten. Und bei interessanten Figuren sind wir für ein Weilchen traurig, wenn das Buch zu Ende ist und wir nicht länger an ihrem Leben teilhaben dürfen.
Freuds Dreier-Teams
Richtig gute Geschichtenerzähler und -erzählerinnen wissen das und arbeiten ihre Figuren entsprechend aus.
Da gibt es zum Beispiel das Dreier-Team, wie es bei Harry Potter oder der alten Star-Trek-Serie vorkommt. Jede dieser drei Figuren spiegelt einen Teil einer Persönlichkeit wider: den emotionalen Teil, den rationalen Teil und den Teil, der dann die Entscheidungen trifft, die Haupt-Hauptfigur sozusagen. Hier ist der Einfluss Freuds unverkennbar: Ich, Es und Über-Ich. Da die drei Figuren in einem ständigen Austausch miteinander stehen – klar, sie bilden ja nur gemeinsam eine vollständige Persönlichkeit – wird es den Lesern und Leserinnen leicht gemacht, an ihren Gedanken und Gefühlen, überhaupt an ihrem Leben teilzuhaben. Solche Team-Hauptfiguren können sehr überzeugend sein.
Die Romanfigur und ihr Buddy
Es geht natürlich auch anders. Nicht immer steht ein Dreier-Team im Zentrum. In vielen Geschichten wird der Hauptfigur aber zumindest ein Buddy zur Seite gestellt: eine Freundin, ein Assistent, auch ein Gegenspieler kann ein solches Gegenüber sein – einfach eine Figur, mit der Gedanken geteilt, offene Fragen geklärt, Dinge besprochen werden können. Viele Informationen über die Hauptfigur können so transportiert werden. Wie spricht sie? Welche Dinge beschäftigen sie? Wie geht sie mit ihrem Gegenüber um? Ist diese Figur ein guter Freund? Eine aufmerksame Chefin? Oder ist sie launisch, spricht gern in Ein- oder Zwei-Wort-Sätzen und hört nie richtig zu?
Bedien dich bei den Archetypen
Die Archetypen bieten da übrigens ein ganzes Sortiment an potenziellen Begleitpersönlichkeiten: den Mentor, den Boten, den Antagonisten – die Auswahl ist groß.
Gibt es kein Team und keinen Buddy für die Hauptfigur, so kann es trotzdem Anlass für Gespräche geben. Vielleicht führt die Figur Tagebuch, schreibt Briefe, Mails oder Nachrichten über irgendwelche Messenger-Dienste – es gibt viele Möglichkeiten, die Hauptfigur in deiner Geschichte dazu zu bringen, ihre Gedanken offenzulegen und zu zeigen, was in ihr vorgeht.
Wie wird eine Figur noch dreidimensionaler?
Indem sie etwas bekommt, das sie antreibt. Jede Geschichte, jede gute, spannende Geschichte, die erzählt wird, folgt einem bestimmten Hauptthema, dem roten Faden, etwas, das unter oder hinter dem Offensichtlichen liegt. Diese Triebkräfte lassen sich im Wesentlichen auf einige wenige Punkte herunterbrechen: Rivalität oder Flucht sind nur zwei davon.
Jemand, der ganz versessen darauf ist, erfolgreich und reich zu werden, wird vielleicht im Grunde davon getrieben, seinen Eltern oder dem älteren Bruder etwas beweisen zu wollen: Rivalität ist hier der Antrieb.
Jemand, der es nie lange an einem Ort aushält, ist nicht nur unstet. Vermutlich ist er auf der Suche nach etwas – vielleicht sogar etwas Großem wie dem Sinn in seinem Dasein?
Frag dich doch mal, was deine Figuren treibt, abgesehen von dem Offensichtlichen. Dadurch bekommt die Figur Tiefe und eine Aufgabe, die für die Leser und Leserinnen nachvollziehbar ist – diese großen Themen sind so etwas wie Allgemeingut in unserem Denken und Empfinden, dazu müssen sie uns nicht einmal bewusst sein.
Und was dient noch dazu, einen Charakter zu entwickeln?
Noch individueller werden Romanfiguren, wenn sie kleine Besonderheiten haben, so, wie echte Menschen sie auch haben. Spleens, Hobbys, besondere Interessen. Das kann eine bestimmte Art sein, sich zu kleiden. Das kann eine Vorliebe für ein bestimmtes Essen, einen bestimmten Musikstil oder eine Lieblingsfarbe sein. Das kann aber auch eine Angewohnheit sein – jemand, der ein bisschen lispelt oder, wenn er nervös wird, anfängt, sein Ohrläppchen zu reiben. Aber Achtung: solche Marotten sollten zu der Figur passen und sie interessant machen und nicht etwa aufgesetzt wirken. Kontraste sind zum Beispiel eine schöne Möglichkeit: die Handwerkerin etwa, die ihre Arbeitstage in Blaumann und mit Sicherheitsstiefeln verbringt, hat in ihrer Freizeit ein Faible für hohe Absätze und Blümchenkleider. Oder der Angehörige einer Spezialeinheit, der in seiner Freizeit gern klassische Musik hört, um sich bei Kultur zu entspannen.
Schenk deiner Figur Träume
Dazu kannst du deiner Figur noch ein paar Träume mitgeben – ihre persönliche Löffelliste. Das kann etwas Greifbares sein wie ein schicker Sportwagen oder eine Kreuzfahrt zu den Lofoten. Es kann aber auch der Wunsch sein, sich endlich mit der Tochter zu versöhnen (oder mit der Mutter, je nach Altersstufe) oder die Sehnsucht nach einer glücklichen Partnerschaft oder dem Haus im Grünen.
Nicht alles davon muss explizit in deiner Geschichte erwähnt werden. Aber es ist sinnvoll, für die Figur einen Pool an Charakteristika zu erschaffen, auf den du zugreifen kannst, wenn du das für deine Geschichte brauchst. Und wenn es nur dazu dient, dir besser vorzustellen, was deine Figur wohl in dieser oder jener Situation tun würde – oder wie andere über sie denken oder sprechen könnten.
Probier’s mal aus!