Nicht unbedingt, aber es schadet auch nicht.
Tatsächlich kommt es vor allem darauf an, wie bedeutsam der Handlungsort für die Geschichte ist, und wie speziell er ist. Bieten London oder Berlin nur den Hintergrund für die Liebe, die sich zwischen deinen Protas entwickelt, reicht meistens das, was allgemein über die großen Hauptstädte bekannt ist. Lässt du deinen Krimi aber in der amerikanischen Provinz des Mittelwestens spielen, wäre es hilfreich, schon mal vor Ort gewesen zu sein.
Gründliche Recherche über den Handlungsort ist unerlässlich
Vor allem, wenn du noch nie persönlich dort gewesen bist.
Fast alles lässt sich über fast jeden Ort herausfinden, ohne auch nur einen Fuß dorthin gesetzt zu haben.
Durch die Möglichkeit, online Zugriff auf sehr aktuelle Daten zu haben, lassen sich über fast jeden Winkel der Welt beliebig viele Informationen sammeln. Stadtpläne, Fotos, Anekdoten, Reiseberichte – alles lässt sich über Google oder aus Büchern zusammentragen. Mein ergänzendes Mittel der Wahl sind dann noch Dokus oder anderes Filmmaterial, weil bewegte Bilder und Originalton noch weit mehr von der Atmosphäre eines Ortes vermitteln können, als es schriftliche Aufzeichnungen Grafiken oder sogar Fotos können. Durch das Studium dreidimensionaler Stadtpläne und bebilderter Reiseführer kannst du einen Wissensstand erreichen, mit dem du dich blind in einer dir eigentlich völlig fremden Stadt zurechtfinden könntest und vermutlich besser über viele Eigenheiten Bescheid weißt, als mancher Mensch, der dort sein ganzes Leben verbracht hat. Aber irgendwann stößt das so aus zweiter oder dritter Hand angeeignete Wissen an Grenzen.
Der wohl berühmteste Schriftsteller, der den größten Teil seines literarischen Schaffens auf reine Recherche (und das eine oder andere Plagiat …) stützte, war Karl May. Die meisten seiner zahlreichen Bücher, die in Teilen Asiens, in Mexiko und in den USA spielen, hat er geschrieben, ohne auch nur in die Nähe eines einzigen dieser Länder gekommen zu sein. Das hat er – zumindest zum Teil – erst sehr viel später nachholen können. Deswegen wird Karl May auch immer gern angeführt als Beispiel für einen Autor, der seine Handlungsorte fundiert recherchiert, aber nicht bereist hat und trotzdem sehr erfolgreich war.
Karl May – der Reiseschriftsteller, der (fast) nie reiste
Ich tue mich mit diesem Beispiel allerdings immer schwer. Das war eine andere Zeit.
Karl May hatte nämlich das Glück, in einer Zeit gelebt und geschrieben zu haben, in der nicht nur er weder in Kurdistan noch in Bagdad und auch nicht in den Vereinigten Staaten gewesen war, sondern auch kein einziger seiner zahlreichen, oft jugendlichen Leser (und etwas weniger Leserinnen). Er konnte also fast alles behaupten, ohne dass jemand es besser wusste. Das ist heute anders. Viele Menschen sind heute weiter gereist als nur bis in den Nachbarort, kaufen sich ein Buch, das in Schweden, Österreich oder Neuseeland spielt vielleicht gerade deshalb, weil sie dort einmal für eine Weile gelebt oder doch wenigstens einen längeren Urlaub verbracht haben. Sie wollen sich erinnern an die kühlen Sommer in Stockholm, die Alpseen in Österreich und die Kayakfahrten auf der Südinsel.
Und das bedeutet, dass ihnen Fehler in den Ortsbeschreibungen sofort auffallen würden.
Ich gestehe, ich persönlich schrecke davor zurück, Orte in den Mittelpunkt meiner Geschichte zu stellen, an denen ich noch nie gewesen bin. Ich bin recht viel herumgekommen, und es gab in jedem Land einen Eindruck von einem Land, einer Stadt oder einer Region, der mich überrascht hat, wenn ich zum ersten Mal vor Ort war. Manchmal ganz banale Dinge: Als ich zum ersten Mal in den USA war, fiel mir auf, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten tatsächlich alles höher, größer, breiter war, als ich es von europäischen Großstädten her kannte. Dass es dort völlig indiskutabel war, sich wie in Berlin mittels Ellbogenkraft in die öffentlichen Verkehrsmittel zu drängeln, weil es als außerordentlich unschicklich gilt, jemanden auch nur im Vorbeigehen körperlich zu berühren, wenn es sich nicht gerade um ein Familienmitglied handelt – mit dieser Haltung würde ich in der Berliner S-Bahn nie einen Sitzplatz ergattern. Dass in Ägypten die Männer ihren Feierabenddrink gern auf ihrem Boot in der Mitte des Nils genießen, obwohl der Genuss von Alkohol im Land ja eigentlich verpönt ist. Dass die Häuser in den nicht ganz so wohlhabenden Vierteln aus den unterschiedlichsten Materialien gebaut sind, weil jedes Mal, wenn sich die Familie vergrößert, das Haus ein Stück erweitert wird, bevorzugt nach oben, mit Ziegelsteinen, Feldsteinen oder Holz – je nachdem, was gerade verfügbar ist. Dass in Polen tatsächlich viel beherzter Auto gefahren wird als in Deutschland, wie es immer behauptet wird, dass das aber völlig unproblematisch ist, weil kein Mensch auf die Idee käme, auf seinem Recht zu beharren, sondern einfach Platz macht, wenn jemand unbedingt überholen will.
Den Handlungsort zu kennen hat viele Vorteile
Was ich damit sagen will: Recherche ermöglicht viel. Das Gefühl, ein Land zu erleben, mit all seinen Besonderheiten, seinen Gebräuchen, seinem Alltag und seinen No-Gos, das lässt sich nicht vollständig ersetzen, auch nicht durch die sorgfältigste Forschung. Und insofern halte ich das Risiko, in meiner Beschreibung des Alltags einer Stadt, die ich nicht persönlich erlebt habe, einen Fehler zu machen, für sehr groß. Weswegen ich vermutlich nie ein Buch schreiben werde, das in Japan spielt – da war ich nämlich noch nicht, und ich bin nicht sicher, ob ich da noch hinkommen werde. Und ich würde es nicht wagen, mich in einer Geschichte ausschließlich auf Recherche zu stützen.
Um die Frage abschließend zu beantworten: Nein, ihr müsst nicht unbedingt den Ort bereist haben, an dem eure Geschichte spielt. Eine sehr gründliche Recherche kann durchaus genügen.
Erfindet den Ort der Handlung!
Mein Mittel der Wahl wäre allerdings ein anderes: Wenn ich nur online, aber nicht vor Ort recherchieren kann, der Ort in meiner Geschichte aber eine große Rolle spielt und es sich nicht gerade um eine der Metropolen des jeweiligen Landes handelt, dann würde ich einfach einen Ort erfinden, der angelehnt ist an einen real existierenden Platz – sei es eine Stadt oder ein Dorf. Dann könnten eure interessierten und aufmerksamen Leser und Leserinnen den Ort vielleicht erkennen, es kommt aber nicht darauf an, ob die Brücke über das Flüsschen, das die Stadt in zwei Hälften teilt, auf Höhe des Rathauses ist oder tatsächlich schon seit Jahrzehnten für den Autoverkehrt gesperrt ist – weswegen eure Heldin nicht dort entlang den Weg zur Arbeit nehmen kann. Gut erfunden ist im Zweifel besser als mäßig recherchiert.
Mein Schreibtipp lautet hier also: habt Mut zur Fantasie 😉